Nicole Niquille über ihre Ausbildung zur ersten Bergführerin der Schweiz und über Schicksalsschläge
Reisen-Freizeit 23. Dezember 2011
Nicole Niquille war eine begnadete Alpinistin und wurde vor 25 Jahren zur ersten Bergführerin der Schweiz. 8 Jahre später erlitt sie beim Pilzesammeln einen Unfall und lebt seither im Rollstuhl. Ihre Lebensfreude vermochte dies nicht zu trüben.
Interview: Caroline Fink
Frau Niquille, als Sie sich Mitte der achtziger Jahre als erste Frau für die Bergführerausbildung anmeldeten – was ging Ihnen da durch den Kopf?
Das Einzige, was mich im Vorfeld des Kurses beschäftigte, war die Frage, ob ich das alpintechnische Niveau hätte.
Dass Sie die erste Frau waren, beschäftigte Sie nicht?
Nein, der Bergführerkurs war für mich keine Geschlechterfrage, sondern eine reine Frage des Könnens.
Die Kategorien von Männerberufen oder Frauenberufen gab es für Sie nicht?
Es gab sicher Berufe, die für mich damals nicht infrage gekommen wären. Zum Beispiel . . . (überlegt) . . . Metzgerin oder Hundecoiffeuse. Dies hatte aber nichts mit mir als Frau, sondern vielmehr mit meiner Lebenseinstellung zu tun.
Wie war es innerhalb der Bergführerausbildung – wie gingen die Verantwortlichen der Ausbildung und die Experten mit dem Novum «Frau» um?
Ich wurde härter geprüft als andere. Die ganze Gruppe, in der ich war, wurde härter geprüft als die anderen.
Wie äusserte sich dies?
An einem Abend etwa musste meine Gruppe in einem kalten Iglu übernachten, während alle anderen Teilnehmer in der Hütte nebenan schliefen. Und bei der Spaltenrettung hängten die Ausbildner mir den Schwersten ans Seil. Einen, der um die hundert Kilo wog. Ein Experte stand gleich neben uns, wahrscheinlich bereit, sofort einzugreifen, falls ich den Spaltensturz nicht hätte halten können.
Sie erzählen das alles mit einem Schmunzeln. Ärgerte Sie diese härtere Prüfung nie?
Nein. Ich finde das bis heute völlig normal. Wer als Erster oder Erste einen neuen Weg geht, muss besser sein als die anderen.
Und Sie waren besser.
Ich hatte viel Übung, nicht zuletzt dank meinem damaligen Lebenspartner Erhard Loretan. Wir waren die ganze Zeit in den Bergen unterwegs. Ausserdem war ich mental stark. Und dann hatte ich auch etwas Glück: Während der Ausbildung schaffte ich es, einen anderen Aspiranten am Seil auf einem ausgesetzten Grat bei einem plötzlichen Sturz zu halten. Das ist nicht ganz einfach, rettete uns beiden vielleicht das Leben und verschaffte mir einige Punkte bei den Experten.
Was raten Sie jungen Frauen, die sich überlegen, Bergführerinnen zu werden?
Ich würde ihnen sagen, der Bergführerberuf sei ein Superberuf, sofern man die Berge wirklich über alles möge. Die Ausbildung nur für sich selbst und wegen des Titels zu machen, würde ich niemandem empfehlen. Es wäre eine zu grosse Investition an Geld und Zeit. Man muss das Bergsteigen lieben und intensiv auf diesem Beruf arbeiten wollen.
Wie haben Sie selbst diese Leidenschaft für die Berge entwickelt?
Nun, die Bergwelt mit den kleinen Blumen und Murmeltieren kannte ich seit meiner Kindheit. Mit den Eltern verbrachten wir praktisch jedes Wochenende beim Wandern. Das Klettern und Bergsteigen entdeckte ich 1975, im Alter von rund zwanzig Jahren, nach einem Mopedunfall. Die Ärzte empfahlen mir zur Regeneration nach dem Unfall «einen sanften Sport» (lacht). Ich entschied mich für das Klettern.
Und bald lernten Sie den jungen, talentierten Erhard Loretan – später einer der bekanntesten Bergsteiger der Schweiz – kennen.
Genau. Ich lernte über das Klettern rasch neue Freunde kennen, unter anderem Erhard. Wir verliebten uns ineinander, waren beide jung, ich hatte einen Deux-Chevaux und damals als Lehrerin genügend Freizeit. Somit verbrachten wir fortan jede freie Minute in den Bergen. In Chamonix, in Südfrankreich oder hier im Freiburgischen. Im Winter etwa kletterten wir hier steile, gefrorene Grashänge mit Pickel und Steigeisen, um für Couloirs zu trainieren. Manches davon war härter als alles, was ich später gemacht habe.
Gibt es rückblickend eine herausragende Bergerfahrung für Sie?
(Überlegt.) Der K2 im Jahr 1985 war wirklich aussergewöhnlich für mich. Das war meine erste Expedition. Keine kommerzielle Expedition, sondern vielmehr eine Unternehmung im kleinen Rahmen mit Erhard und ein paar Freunden. Wir verwendeten keinen künstlichen Sauerstoff und hatten keine Hochträger. Das war eine wunderbare Erfahrung, und obwohl ich es nicht auf den Gipfel schaffte, behalte ich diese Zeit in bester Erinnerung.
Sie waren eine talentierte Alpinistin, wurden 1986 zur ersten Schweizer Bergführerin, arbeiteten mehrere Jahre auf diesem Beruf und waren ab 1993 glücklich verheiratet mit Ihrem ersten Mann Pascal. Dann kam der 8. Mai 1994. Mögen Sie darüber reden?
Ja klar, kein Problem. Ich rede über den Unfall. (Deutet mit der Hand aus dem Fenster ihrer Stube am Dorfrand von Charmey [FR].) Schauen Sie, gleich da ist es geschehen. Da hinter dem Haus. Mit Pascal und einem Kollegen sammelte ich dort Pilze. Ich erinnere mich, dass ich glücklich war und eine Tüte voller Morcheln in der Hand hielt. Den Rest erzählten mir die anderen: Ein kleiner Stein fiel vom dahinter liegenden Felsband herunter, nussgross, traf mich in der Mitte des Kopfs und fügte mir einen Schädelbruch zu. Ich wurde mit dem Helikopter ins Unispital Lausanne geflogen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma mit Schädigung des Mobilitätszentrums.
In Ihrer Biografie ist zu lesen, dass Sie danach zwanzig Monate lang im Rehabilitationszentrum Basel waren. Eine schwierige Vorstellung für einen jungen, aktiven Menschen, wie Sie es waren.
Nun, die zwanzig Monate in Basel waren lang, aber rückblickend auch kurz. Nach dem Unfall konnte ich ja fast nichts mehr tun. Nicht mehr reden und mich nicht mehr bewegen. Nur den Kopf konnte ich noch nach links drehen, das war alles. In der Reha habe ich alles wieder gelernt und mich an den Rollstuhl gewöhnt, unterstützt von wunderbaren Leuten, mit denen ich zum Teil bis heute noch befreundet bin. Insgesamt kann ich sagen: Basel, das sind gute Erinnerungen.
Und der Schmerz, fortan im Rollstuhl zu leben?
Es gab nach dem Unfall schmerzhafte Momente. Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte. Momente, in denen ich mich fragte: «Warum ich, warum jetzt?»
Heute wirken Sie sehr glücklich.
Ich habe alles längst akzeptiert. Ich bin in Frieden mit dem Schicksal.
Viele werden sich fragen, wie Nicole Niquille nach einem solchen Schicksalsschlag diesen Frieden gefunden hat.
Ich glaube, das Rezept zum Glück ist simpel: Man muss einfach mit dem Leben gehen.
Ihr Leben führte Sie zurück in die Berge.
Ja, nach zwanzig Monaten Reha brauchte ich meine Berge wieder. Und am Lac de Tanay in den Walliser Alpen entdeckte ich ein Restaurant, das mir gefiel. Ich machte die Wirtefachprüfung, kaufte das Restaurant und führte es vierzehn Jahre lang – bis letztes Jahr. Elf Jahre davon gemeinsam mit meinem zweiten Mann Marco Vuadens.
Und nebenbei gründeten Sie noch eine Stiftung und errichteten ein Spital im nepalesischen Lukla . . .
Dieses Projekt entstand im Zuge des Restaurants am Lac de Tanay. Dort lernten Marco und ich einen Sherpa kennen, der hier arbeitete. Er erzählte uns die Geschichte seiner Schwester, die als erste nepalesische Frau auf den Everest gestiegen war: Pasang Lhamu. Auf dem Rückweg vom Gipfel kam die dreifache Mutter jedoch auf tragische Weise in einem Sturm ums Leben, worauf ihr Mann eine Stiftung gründete. Mit dieser wollte er im Sinn seiner verstorbenen Frau in Projekte investieren, verfügte aber selbst nur über begrenzte finanzielle Mittel. Als wir diese Geschichte hörten, hatten Marco und ich sofort die gleiche Idee: Wir wollten diese Stiftung unterstützen. Im Oktober 2005 konnten wir die Einweihung des «Hôpital Pasang Lhamu & Nicole Niquille» im Dorf Lukla am Fuss des Everest feiern.
Waren Sie selbst vor Ort?
Ja klar! Ein- oder zweimal pro Jahr besuche ich das Spital. In einem Jahr war ich sogar dreimal dort.
Der Rollstuhl ist kein Problem?
Nein, das geht sehr gut. Dieses Jahr begleitete ich sogar als Base-Camp-Manager eine Frauen-Expedition zum Putha Hiunchuli, einem Siebentausender im Dhaulagiri Himal. Ich hatte drei Träger, die mich huckepack auf einem Holzgestell abwechselnd trugen. Nur hatte es diesmal zu viel Schnee, und so wurde es zu anstrengend für sie. So kam es, dass ich drei Wochen in einem nahe gelegenen Dorf blieb und anstelle der Aufgabe als Base-Camp-Manager eine neue Rolle erhielt: Ich machte drei Wochen Campingferien (lacht). Das war ein sehr schönes Erlebnis.
Schmerzt es Sie, selbst nicht mehr auf die Gipfel zu steigen?
Mein Geist hat sich verändert. Heute schaue ich einen Berg anders an als früher. Ich überlege mir nicht mehr, welche Route man wo genau klettern könnte, um den Gipfel zu erreichen. Ich schaue einen Berg an und sehe nur noch seine Schönheit. Diese Schönheit, die so viele Menschen glücklich macht.
Ungebrochene Lebenslust
fin. ⋅ Nicole Niquille wurde 1956 geboren und wuchs im freiburgischen Voralpengebiet von Charmey auf. Als knapp Zwanzigjährige begann sie 1975 mit dem Klettern und lernte in diesem Rahmen ihren Lebenspartner junger Jahre, den später bekannten Bergsteiger Erhard Loretan, kennen. Gemeinsam unternahmen sie anspruchsvollste Touren in den Alpen und im Himalaja, unter anderem 1985 zum K2 und ein Jahr später zum Everest von der tibetischen Seite her. Im Jahr 1986 erhielt Nicole Niquille als erste Frau das Schweizer Bergführerdiplom. Acht Jahre später erlitt sie beim Pilze-sammeln einen Unfall und lebt seither im Rollstuhl. Nach längerer Rehabilitation kaufte sich Nicole Niquille am Lac de Tanay in den Walliser Alpen ein Restaurant, erwarb das Wirtepatent und führte während 14 Jahren «Chez Nicole». Im selben Zeitraum gründete sie mit ihrem Mann Marco Vuadens eine Stiftung, mit deren Hilfe im Oktober 2005 im nepalesischen Dorf Lukla im Gebiet des Khumbu ein Spital eröffnet wurde. Für dieses Projekt reist Nicole Niquille bis heute mehrmals jährlich nach Nepal. Anfang Dezember hat sie zum 25-Jahr-Jubiläum ihres Bergführerdiploms vom Schweizer Bergführerverband die Ehrenmitgliedschaft erhalten.
Literatur: Nicole Niquille: Et soudain, une montagne dans le ciel . . . Editions Favre SA, Lausanne 2009. – Jean-François Robert: Un hôpital dans la Vallée des Sherpas, Photographit, La Chaux-de-Fonds 2010. Informationen zur Stiftung: www.hopital-lukla.ch.
Sources : NZZ Online - 23.12.2011
Reisen-Freizeit 23. Dezember 2011
Nicole Niquille war eine begnadete Alpinistin und wurde vor 25 Jahren zur ersten Bergführerin der Schweiz. 8 Jahre später erlitt sie beim Pilzesammeln einen Unfall und lebt seither im Rollstuhl. Ihre Lebensfreude vermochte dies nicht zu trüben.
Interview: Caroline Fink
Frau Niquille, als Sie sich Mitte der achtziger Jahre als erste Frau für die Bergführerausbildung anmeldeten – was ging Ihnen da durch den Kopf?
Das Einzige, was mich im Vorfeld des Kurses beschäftigte, war die Frage, ob ich das alpintechnische Niveau hätte.
Dass Sie die erste Frau waren, beschäftigte Sie nicht?
Nein, der Bergführerkurs war für mich keine Geschlechterfrage, sondern eine reine Frage des Könnens.
Die Kategorien von Männerberufen oder Frauenberufen gab es für Sie nicht?
Es gab sicher Berufe, die für mich damals nicht infrage gekommen wären. Zum Beispiel . . . (überlegt) . . . Metzgerin oder Hundecoiffeuse. Dies hatte aber nichts mit mir als Frau, sondern vielmehr mit meiner Lebenseinstellung zu tun.
Wie war es innerhalb der Bergführerausbildung – wie gingen die Verantwortlichen der Ausbildung und die Experten mit dem Novum «Frau» um?
Ich wurde härter geprüft als andere. Die ganze Gruppe, in der ich war, wurde härter geprüft als die anderen.
Wie äusserte sich dies?
An einem Abend etwa musste meine Gruppe in einem kalten Iglu übernachten, während alle anderen Teilnehmer in der Hütte nebenan schliefen. Und bei der Spaltenrettung hängten die Ausbildner mir den Schwersten ans Seil. Einen, der um die hundert Kilo wog. Ein Experte stand gleich neben uns, wahrscheinlich bereit, sofort einzugreifen, falls ich den Spaltensturz nicht hätte halten können.
Sie erzählen das alles mit einem Schmunzeln. Ärgerte Sie diese härtere Prüfung nie?
Nein. Ich finde das bis heute völlig normal. Wer als Erster oder Erste einen neuen Weg geht, muss besser sein als die anderen.
Und Sie waren besser.
Ich hatte viel Übung, nicht zuletzt dank meinem damaligen Lebenspartner Erhard Loretan. Wir waren die ganze Zeit in den Bergen unterwegs. Ausserdem war ich mental stark. Und dann hatte ich auch etwas Glück: Während der Ausbildung schaffte ich es, einen anderen Aspiranten am Seil auf einem ausgesetzten Grat bei einem plötzlichen Sturz zu halten. Das ist nicht ganz einfach, rettete uns beiden vielleicht das Leben und verschaffte mir einige Punkte bei den Experten.
Was raten Sie jungen Frauen, die sich überlegen, Bergführerinnen zu werden?
Ich würde ihnen sagen, der Bergführerberuf sei ein Superberuf, sofern man die Berge wirklich über alles möge. Die Ausbildung nur für sich selbst und wegen des Titels zu machen, würde ich niemandem empfehlen. Es wäre eine zu grosse Investition an Geld und Zeit. Man muss das Bergsteigen lieben und intensiv auf diesem Beruf arbeiten wollen.
Wie haben Sie selbst diese Leidenschaft für die Berge entwickelt?
Nun, die Bergwelt mit den kleinen Blumen und Murmeltieren kannte ich seit meiner Kindheit. Mit den Eltern verbrachten wir praktisch jedes Wochenende beim Wandern. Das Klettern und Bergsteigen entdeckte ich 1975, im Alter von rund zwanzig Jahren, nach einem Mopedunfall. Die Ärzte empfahlen mir zur Regeneration nach dem Unfall «einen sanften Sport» (lacht). Ich entschied mich für das Klettern.
Und bald lernten Sie den jungen, talentierten Erhard Loretan – später einer der bekanntesten Bergsteiger der Schweiz – kennen.
Genau. Ich lernte über das Klettern rasch neue Freunde kennen, unter anderem Erhard. Wir verliebten uns ineinander, waren beide jung, ich hatte einen Deux-Chevaux und damals als Lehrerin genügend Freizeit. Somit verbrachten wir fortan jede freie Minute in den Bergen. In Chamonix, in Südfrankreich oder hier im Freiburgischen. Im Winter etwa kletterten wir hier steile, gefrorene Grashänge mit Pickel und Steigeisen, um für Couloirs zu trainieren. Manches davon war härter als alles, was ich später gemacht habe.
Gibt es rückblickend eine herausragende Bergerfahrung für Sie?
(Überlegt.) Der K2 im Jahr 1985 war wirklich aussergewöhnlich für mich. Das war meine erste Expedition. Keine kommerzielle Expedition, sondern vielmehr eine Unternehmung im kleinen Rahmen mit Erhard und ein paar Freunden. Wir verwendeten keinen künstlichen Sauerstoff und hatten keine Hochträger. Das war eine wunderbare Erfahrung, und obwohl ich es nicht auf den Gipfel schaffte, behalte ich diese Zeit in bester Erinnerung.
Sie waren eine talentierte Alpinistin, wurden 1986 zur ersten Schweizer Bergführerin, arbeiteten mehrere Jahre auf diesem Beruf und waren ab 1993 glücklich verheiratet mit Ihrem ersten Mann Pascal. Dann kam der 8. Mai 1994. Mögen Sie darüber reden?
Ja klar, kein Problem. Ich rede über den Unfall. (Deutet mit der Hand aus dem Fenster ihrer Stube am Dorfrand von Charmey [FR].) Schauen Sie, gleich da ist es geschehen. Da hinter dem Haus. Mit Pascal und einem Kollegen sammelte ich dort Pilze. Ich erinnere mich, dass ich glücklich war und eine Tüte voller Morcheln in der Hand hielt. Den Rest erzählten mir die anderen: Ein kleiner Stein fiel vom dahinter liegenden Felsband herunter, nussgross, traf mich in der Mitte des Kopfs und fügte mir einen Schädelbruch zu. Ich wurde mit dem Helikopter ins Unispital Lausanne geflogen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma mit Schädigung des Mobilitätszentrums.
In Ihrer Biografie ist zu lesen, dass Sie danach zwanzig Monate lang im Rehabilitationszentrum Basel waren. Eine schwierige Vorstellung für einen jungen, aktiven Menschen, wie Sie es waren.
Nun, die zwanzig Monate in Basel waren lang, aber rückblickend auch kurz. Nach dem Unfall konnte ich ja fast nichts mehr tun. Nicht mehr reden und mich nicht mehr bewegen. Nur den Kopf konnte ich noch nach links drehen, das war alles. In der Reha habe ich alles wieder gelernt und mich an den Rollstuhl gewöhnt, unterstützt von wunderbaren Leuten, mit denen ich zum Teil bis heute noch befreundet bin. Insgesamt kann ich sagen: Basel, das sind gute Erinnerungen.
Und der Schmerz, fortan im Rollstuhl zu leben?
Es gab nach dem Unfall schmerzhafte Momente. Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte. Momente, in denen ich mich fragte: «Warum ich, warum jetzt?»
Heute wirken Sie sehr glücklich.
Ich habe alles längst akzeptiert. Ich bin in Frieden mit dem Schicksal.
Viele werden sich fragen, wie Nicole Niquille nach einem solchen Schicksalsschlag diesen Frieden gefunden hat.
Ich glaube, das Rezept zum Glück ist simpel: Man muss einfach mit dem Leben gehen.
Ihr Leben führte Sie zurück in die Berge.
Ja, nach zwanzig Monaten Reha brauchte ich meine Berge wieder. Und am Lac de Tanay in den Walliser Alpen entdeckte ich ein Restaurant, das mir gefiel. Ich machte die Wirtefachprüfung, kaufte das Restaurant und führte es vierzehn Jahre lang – bis letztes Jahr. Elf Jahre davon gemeinsam mit meinem zweiten Mann Marco Vuadens.
Und nebenbei gründeten Sie noch eine Stiftung und errichteten ein Spital im nepalesischen Lukla . . .
Dieses Projekt entstand im Zuge des Restaurants am Lac de Tanay. Dort lernten Marco und ich einen Sherpa kennen, der hier arbeitete. Er erzählte uns die Geschichte seiner Schwester, die als erste nepalesische Frau auf den Everest gestiegen war: Pasang Lhamu. Auf dem Rückweg vom Gipfel kam die dreifache Mutter jedoch auf tragische Weise in einem Sturm ums Leben, worauf ihr Mann eine Stiftung gründete. Mit dieser wollte er im Sinn seiner verstorbenen Frau in Projekte investieren, verfügte aber selbst nur über begrenzte finanzielle Mittel. Als wir diese Geschichte hörten, hatten Marco und ich sofort die gleiche Idee: Wir wollten diese Stiftung unterstützen. Im Oktober 2005 konnten wir die Einweihung des «Hôpital Pasang Lhamu & Nicole Niquille» im Dorf Lukla am Fuss des Everest feiern.
Waren Sie selbst vor Ort?
Ja klar! Ein- oder zweimal pro Jahr besuche ich das Spital. In einem Jahr war ich sogar dreimal dort.
Der Rollstuhl ist kein Problem?
Nein, das geht sehr gut. Dieses Jahr begleitete ich sogar als Base-Camp-Manager eine Frauen-Expedition zum Putha Hiunchuli, einem Siebentausender im Dhaulagiri Himal. Ich hatte drei Träger, die mich huckepack auf einem Holzgestell abwechselnd trugen. Nur hatte es diesmal zu viel Schnee, und so wurde es zu anstrengend für sie. So kam es, dass ich drei Wochen in einem nahe gelegenen Dorf blieb und anstelle der Aufgabe als Base-Camp-Manager eine neue Rolle erhielt: Ich machte drei Wochen Campingferien (lacht). Das war ein sehr schönes Erlebnis.
Schmerzt es Sie, selbst nicht mehr auf die Gipfel zu steigen?
Mein Geist hat sich verändert. Heute schaue ich einen Berg anders an als früher. Ich überlege mir nicht mehr, welche Route man wo genau klettern könnte, um den Gipfel zu erreichen. Ich schaue einen Berg an und sehe nur noch seine Schönheit. Diese Schönheit, die so viele Menschen glücklich macht.
Ungebrochene Lebenslust
fin. ⋅ Nicole Niquille wurde 1956 geboren und wuchs im freiburgischen Voralpengebiet von Charmey auf. Als knapp Zwanzigjährige begann sie 1975 mit dem Klettern und lernte in diesem Rahmen ihren Lebenspartner junger Jahre, den später bekannten Bergsteiger Erhard Loretan, kennen. Gemeinsam unternahmen sie anspruchsvollste Touren in den Alpen und im Himalaja, unter anderem 1985 zum K2 und ein Jahr später zum Everest von der tibetischen Seite her. Im Jahr 1986 erhielt Nicole Niquille als erste Frau das Schweizer Bergführerdiplom. Acht Jahre später erlitt sie beim Pilze-sammeln einen Unfall und lebt seither im Rollstuhl. Nach längerer Rehabilitation kaufte sich Nicole Niquille am Lac de Tanay in den Walliser Alpen ein Restaurant, erwarb das Wirtepatent und führte während 14 Jahren «Chez Nicole». Im selben Zeitraum gründete sie mit ihrem Mann Marco Vuadens eine Stiftung, mit deren Hilfe im Oktober 2005 im nepalesischen Dorf Lukla im Gebiet des Khumbu ein Spital eröffnet wurde. Für dieses Projekt reist Nicole Niquille bis heute mehrmals jährlich nach Nepal. Anfang Dezember hat sie zum 25-Jahr-Jubiläum ihres Bergführerdiploms vom Schweizer Bergführerverband die Ehrenmitgliedschaft erhalten.
Literatur: Nicole Niquille: Et soudain, une montagne dans le ciel . . . Editions Favre SA, Lausanne 2009. – Jean-François Robert: Un hôpital dans la Vallée des Sherpas, Photographit, La Chaux-de-Fonds 2010. Informationen zur Stiftung: www.hopital-lukla.ch.
Sources : NZZ Online - 23.12.2011